„Vergesst die Armen nicht“


Diesen Anspruch hat Papst Franziskus an unsere Kirche und unsere Gesellschaft formuliert.


Und das tun wir!
Mit einer langen Tradition sind wir in vielfältigster Weise in der Caritasfamilie und in den Ge-meinden aktiv, gemeinsam mit vielen anderen Akteuren. Es sprengt den Rahmen all die Un-terstützungs- und Beratungsangebote aufzuzählen.


Diese Arbeit wäre nicht möglich ohne die Mittel, die uns die Erzdiözese gerade dafür zur Ver-fügung stellt, ohne die Anstrengungen der LHM, das finanzielle Engagement von großzügigen Spenderinnen und Spendern, und den großen Einsatz der vielen ehrenamtlichen und haupt-beruflichen Mitarbeitenden. Allen gilt ein großer Dank.


Es passiert hier sehr viel Gutes, Wichtiges und Hilfreiches.


Ich habe mich in der Vorbereitung aber gefragt, wie sehr ich mich schon daran gewöhnt habe, dass Armut zu unserer Gesellschaft dazu gehört.


Wie sehr mich an die sichtbare Armut gewöhnt habe: an Bettler und Bettlerinnen, an Menschen, die in Hauseingängen schlafen oder Menschen, die Flaschen sammeln. Aber auch an die Armut, die man nicht auf den ersten Blick sieht, von der wir alle hier aber wissen bzw. mit der wir in den jeweiligen Bereichen konfrontiert sind.


Und ich bin erschrocken, dass mir die Vision einer Gesellschaft ohne Armut fehlt.
Bei der Erhebung zum Münchner Armutsbericht 2017 haben rd. 129.000 Menschen in München staatliche Unterstützungen erhalten – hier sprechen wir von der bekämpften Armut. Doppelt so viele also rd. 270.000 Menschen fallen unter den Begriff der relativen Armut, sind als armutsgefährdet. Sie verfügen über weniger als 60% des mittleren Einkommens der Bevölkerung, in München waren das 1.350 € für einen Einpersonenhaushalt. Das heißt Ende 2016 waren 17,4% der Münchnerinnen und Münchner armutsgefährdet. In der Grundsicherung für Arbeitssuchende waren rd. 22.000 Kinder, das sind fast 12% aller Kinder unter 15 Jahren.


Und bei allen Zahlen gilt: Tendenz eindeutig steigend! Das bedeutet, dass wir davon ausgehen müssen, dass jeder sechste Mensch in München in relativer Armut lebt.

Aber es geht nicht um die Zahlen, sondern um die Menschen mit ihren Geschichten und Schicksalen, die hinter diesen Zahlen stehen.


Wenn wir heute über Armut sprechen, geht es um Menschen, die von ihrem Verdienst, ihrer Rente oder den staatlichen Leistungen, wie Hartz IV nicht leben können. Die ab der Mitte des Monats nicht wissen, wie sie mit ihrem Geld auskommen sollen. Menschen, die darauf angewiesen sind, dass sie Lebensmittel über die Tafel oder ein kostenfreies Mittagsessen in einem Alten- und Servicezentrum bekommen. Menschen, die in schlecht sanierten Wohnungen leben und alte Kühlschränke besitzen und deshalb noch mehr Energie und damit das letzte bisschen Geld verbrauchen. Wir reden über Kinder, die ohne Frühstück in die Schule kommen und die sich einen Kinobesuch oder die Klassenfahrt nicht leisten können.


Wir wissen sehr viel über die Armutsrisiken:
Ganz wesentliche Ursachen für Armut sind Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse und die langfristig daraus resultierenden niedrigen Renten. Wir wissen, dass Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, Menschen mit geringer Bildung, ohne Schul- oder Berufsabschluss, Menschen mit Migrationsgeschichte sowie alte Menschen und dabei vor allem Frauen besonders oft von Armut betroffen sind.


Gerade im teuren München merken aber viele Menschen, dass Armut auch sie betreffen kann. Wenn Mieten und Lebenshaltungskosten ständig steigen, der Verdienst aber gerade so reicht, sind die Spielräume oft sehr gering. Kommt ein Schicksalsschlag dazu, etwa der Verlust der Arbeit, eine Erkrankung, eine Trennung oder der Tod des Partners, kann es sehr schnell bedrohlich werden.

Wir wissen auch sehr viel über die Folgen und Begleiterscheinungen von Armut: mangelhafte Ernährung, schlechte Wohnsituationen, höhere Krankheitsstände und eine geringere Lebenserwartung.


Menschen in Armut sind oft einsamer, ärmer an sozialen Kontakten, nehmen weniger am gesellschaftlichen Leben teil und leiden mehr an psychischen Erkrankungen. All diese Faktoren verstärken die eigentliche materielle Armut und erschweren die Rückkehr in die Normalität, den Arbeitsmarkt und ein selbstbestimmtes Leben. Armut bedeutet nicht nur, dass materielle Mittel fehlen – sie wirkt sich als permanente Belastung und Stress auf viele Ebenen aus.


Besonders fatal sind die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen. Sie leiden nicht nur unter den fehlenden materiellen Ressourcen, sondern auch darunter, dass die Eltern in dieser Situation oft nicht in der Lage sind, sich adäquat zu kümmern. Und wir wissen, dass Bildungserfolg in unserer Gesellschaft wesentlich vom Elternhaus abhängt. Ich denke, allen hier im Raum ist klar, dass es keine einfachen Lösungen gibt.

Die Diskussionen um die Grundrente haben gezeigt, wie schwierig es auch auf politischer Ebene ist, zu einer Lösung zu kommen und welche Vorbehalte bestehen.


Wenn wir heute über Armut sprechen, sollten wir auch über Haltung und Bewusstseinsbildung sprechen. Es muss klar sein: Wohlstand ist nicht automatisch Leistung und Armut ist im Umkehrschluss auch nicht automatisch fehlende Leistung.
Wir brauchen einen gesellschaftlichen Diskurs, welche Leistungen Menschen unter bestimmten Bedingungen erhalten und welche jedem Menschen zustehen, ohne dass er zum Bittsteller werden muss. Wir müssen diskutieren, wieviel Bürokratie wir uns leisten wollen und können, wie wir armutsgefährdete Menschen noch besser über Hilfemöglichkeiten informieren können, mit welcher Haltung gewährt werden und wie wir hilfebedürftige Menschen besser beteiligen können, um sie aus der Rolle des passiven Hilfeempfängers herauszuführen.


Und es wird um Umverteilung gehen müssen. Unsere Gesellschaft wird auf Dauer nicht so friedvoll bleiben, wenn wenige immer reicher werden und sich viele abgehängt fühlen und Angst haben, sich das Leben nicht mehr leisten zu können.
Bei Armut geht es in München auch immer um das Thema Wohnen. Wir brauchen in München bezahlbaren Wohnraum, für Menschen mit wenig Einkommen, für Menschen, die in Einrichtungen, Beherbergungsbetrieben etc. leben und schon lange ausziehen könnten, wenn sie etwas finden würden, aber auch für unsere Mitarbeitenden, von denen sich viele die Mieten auch nicht mehr leisten können. Hier wünsche ich mir sehr, dass wir im Schulterschluss mit der Erzdiözese noch viel mehr als bisher auf den Weg bringen können.


Ein weiterer Aspekt ist die Bezahlung. Menschen müssen von ihrem Verdienst leben können. Hier geht es natürlich um den Mindestlohn und gerechte Löhne insgesamt. Es geht aber auch um die besondere Situation im Großraum München. Die LHM geht mit der deutlichen Anhebung der Ballungsraumzulage und einem Jobticket voran. Als soziale Träger müssen und möchten wir nachziehen, wissen aber noch nicht, wie wir das in den Bereichen finanzieren sollen, in denen wir keine Zuschüsse der LHM erhalten.


Eine große Herausforderung sehe ich in den Umbrüchen, die sich durch die Digitalisierung ergeben. Es ist noch nicht absehbar, wohin uns das als Gesellschaft führen wird, aber ich gehe davon aus, dass arme bzw. armutsgefährdete Menschen nicht die Gewinner sein werden. Im Gegenteil. Wir müssen das im Blick behalten, damit es nicht durch diese Entwicklungen zu neuen Armutsgefährdungen und Benachteiligungen kommt.


Auch bei den Entwicklungen für einen besseren Klimaschutz müssen wir darauf achten, dass armutsgefährdete Menschen nicht besonders belastet werden. Die alleinerziehende Frau, die sich kein Auto und keine Flugreisen leisten kann, und die vor allem Secondhand-Bekleidung kauft, macht aus ökologischer Sicht nämlich alles richtig, wird aber durch steigende Energie-preise besonders getroffen.

Wir leben in einem der reichsten Länder dieser Erde und in einer besonders wohlhabenden Stadt – darum dürfen wir uns nicht daran gewöhnen, dass Armut ein Teil unserer Gesellschaft ist und die Schere immer weiter auseinandergeht.
Ich wünsche uns die Vision einer Gesellschaft, in der Armut eine Ausnahme ist und gut aufgefangen wird, in der alle vom Wohlstand profitieren und das gesellschaftliche Leben aktiv mitgestalten.


In diesem Sinn wünsche ich uns heute viele gute und spannende Diskussionen und Ideen und Ergebnisse, mit denen wir gemeinsam etwas voranbringen können.

25.11.2019
es gilt das gesprochene Wort